
Marie ist neun Jahre alt, geht in die dritte Klasse und ist ein eher ruhiges, schüchternes Kind. Ihre beste Freundin hat sie zwar, doch nach der Schule verabreden sie sich nie. Schule? Naja. Mathe fällt ihr schwer, Lernen macht ihr keinen Spaß, und nach der Ganztagsbetreuung ab 15 Uhr hat Marie keine Energie mehr für viel anderes. Sie will nur noch essen, Switch spielen, fernsehen oder mit ihrem großen Bruder abhängen. Ein wenig besorgniserregend, oder?
Schritt 1: Optimierung beginnt, der Kalender füllt sich!
Die Eltern sehen Handlungsbedarf. Keine Hobbys? Das ist nicht gut. Also meldet die Mutter Marie erst mal beim Ballett und beim Schwimmen an. Mehr Bewegung, neue Freunde – win-win! Marie ist skeptisch, aber sie probiert es aus und ist guter Dinge.
Der Vater macht sich derweil Sorgen um Mathe. Was, wenn sie das Schuljahr nicht schafft? Also gibt es jetzt Nachhilfe in Mathe und Deutsch, da es da auch nicht rosig aussieht.
Montags Ballett, dienstags Nachhilfe, mittwochs Schwimmen.
Die ersten Wochen ziehen ins Land. Schwimmen? Macht Marie Spaß! Ballett? Nicht ihr Ding. Die Ballettlehrerin ist streng und pingelig- Marie macht nicht mit und hat ein schlechtes Gefühl, wenn sie den Ballettraum betritt.
Die Eltern melden Marie ab – und montags ist wieder nun wieder Zeit für etwas Neues.
Pferde vielleicht?

Schritt 2: Zwischenfall Diagnose- Emotionale Regulation bei Kindern
Dann kommt die Nachricht von der Lehrerin: Verdacht auf Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) oder sogar Dyslexie.
Nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens gibt es endlich eine Diagnose. Und weil Marie ohnehin schon dienstags Mathe-Nachhilfe hat, kann sie am Donnerstag direkt mit einer Lerntherapie starten – natürlich auf Rezept.
Die Eltern atmen auf – endlich eine Erklärung für das, was bisher wie ein ungelöstes Rätsel wirkte. Doch plötzlich ist diese Diagnose der Dreh- und Angelpunkt. Lehrer, Therapeuten, alle haben ihre eigenen Meinungen und Vorschläge. Was vorher einfach hieß, dass Marie „nicht so gerne liest“ und hin und wieder vom Fehlerteufel heimgesucht wurde, wird jetzt offiziell als Defizit anerkannt. Maßnahmen sind eingeleitet, das Problem scheint nun benannt – und es fühlt sich an, als ob die Lösung schon in Reichweite ist.

Schritt 3: Angebotsoptimierung
Nach einigen Monaten hat Marie immer noch keine richtigen Freunde, nur diese eine Freundin, mit der sie sich aber nicht trifft. Vielleicht könnte Tanzen helfen? Oder doch lieber Geige spielen? Geige scheint eine gute Idee zu sein: In der Gruppe gibt es einige nette Mädchen, und außerdem wird ihre musische Förderung gleich mit abgedeckt.
Also geht es freitags zum Geigenunterricht.
Montags ist Reiten dran, dienstags Mathe-Nachhilfe, mittwochs Schwimmen, und donnerstags folgt die Lerntherapie.
Ein paar Wochen später wirkt Marie immer erschöpfter und irgendwie deutlich trauriger. Aber wenn man sie fragt, sagt sie: „Alles ist okay.“

Schritt 4: Emotionen optimieren
Die Mutter macht sich zunehmend Sorgen, irgendetwas stimmt nicht mit Marie. Sie merkt, dass ihre Tochter oft unkontrolliert reagiert, und fragt sich, was sie falsch machen könnte. Da sie kürzlich gelesen hat, wie wichtig Emotionsregulation für Kinder ist, beschließt sie, etwas zu unternehmen. Auf Amazon bestellt sie süße Monsterbücher, die zeigen sollen, wie man Gefühle erkennt und besser mit ihnen umgeht.
Marie blättert interessiert in den Büchern, findet die Monster ganz nett und spielt sogar ein wenig mit den Bildern. Doch eine echte Reaktion oder ein erkennbarer Fortschritt? Fehlanzeige.
Dann, eines Abends beim Abendessen, passiert es plötzlich: Marie schubst ihren Bruder mit einem kräftigen Stoß. Ohne Vorwarnung. Die Eltern sind völlig überrascht und wissen nicht, wie sie reagieren sollen.
Die Konsequenz: Ein sofortiger Switch-Entzug – keine Bildschirmzeit mehr für Marie an diesem Abend. Doch statt Einsicht, bricht sie in Tränen aus und zieht sich sofort in ihr Zimmer zurück. Die Eltern bleiben ratlos im Wohnzimmer zurück. Ist das noch „normal“? Haben sie richtig gehandelt?
In ihrer Verzweiflung fragen sie bei einer anderen Mutter nach Rat. Die Antwort kommt prompt: „Globuli, das hilft immer!“ Na gut, kann ja nicht schaden, oder? Die Eltern sind sich nicht ganz sicher, ob das wirklich der richtige Weg ist, aber sie versuchen es trotzdem – schließlich kann man nie genug Hilfsmittel haben, wenn man die eigenen Emotionen als Eltern regulieren muss.

Schritt 5: Die Situation spitzt sich zu
Es scheint, als ob plötzlich alles gleichzeitig aus den Fugen gerät. Marie hat immer wieder Stress mit einem Mädchen beim Reiten, sie kann sich beim Geigenüben weder konzentrieren noch ausreichend Zeit finden, um wirklich zu üben, und leidet zudem unter wiederkehrenden Mittelohrentzündungen, die auch das Schwimmen unmöglich machen. Ihre Laune wird von Tag zu Tag schlechter, und sie wirkt zunehmend gereizt und gestresst. Es ist, als ob sich alles auf einmal gegen sie verschworen hat. Sie beginnt, sich wie ein Versager zu fühlen, da sie das Gefühl hat, den Anforderungen nicht gerecht zu werden – egal, was sie tut.
Die Eltern, die zunehmend besorgt sind, reagieren mit Konsequenzen: Reiten wird gestrichen, um ihr wenigstens etwas mehr Raum und Entspannung zu ermöglichen.
Stattdessen wird montags eine neue Aktivität eingeführt: Kickboxen. Papa meint, das wäre eine gute Möglichkeit, um Dampf abzulassen. Doch obwohl die Absicht gut ist, ändert sich die Gesamtsituation nicht grundlegend.
Marie hat zudem immer wieder mit Schlafproblemen zu kämpfen. Abends fällt es ihr schwer, zur Ruhe zu kommen, und wenn sie nachts aufwacht, gelingt es ihr nicht mehr, einzuschlafen. Sie klagt oft über Bauchschmerzen und Kopfschmerzen, was dazu führt, dass sie in der Schule immer häufiger fehlt. Besonders belastend wird es, als sie auf ihrem Handy Dinge sieht, die ihr Angst machen. Um sich zu entspannen, verbringt sie immer mehr Zeit mit „Daddeln“ am Handy. Es ist schwer für sie, genau zu benennen, was sie beunruhigt, doch sie zeigt eine auffällige Sensibilität, besonders bei Themen wie Krieg und Überschwemmungen.
Ist Marie etwa hochsensibel oder hat sie eine Störung?
Die Eltern sind zunehmend beunruhigt und überlegen ernsthaft, ob eine Psychotherapie ihrer Tochter helfen könnte, besser mit ihren Ängsten und körperlichen Beschwerden umzugehen. Sie wissen, dass Marie Unterstützung braucht, um aus diesem Teufelskreis von Stress, Ängsten und physischen Symptomen herauszufinden.

Schritt 6: Die Überoptimierung der Kindheit
Wir Eltern meinen es gut. Wir wollen, dass unsere Kinder stark durchs Leben gehen, dass sie mit ihren Herausforderungen – sei es ADHS/ADS oder Teilleistungsstörungen – umgehen können, als ob sie Superhelden wären, die jedes Problem sofort eliminieren. Es ist löblich, dass wir uns damit befassen und unsere Kinder bestmöglich unterstützen möchten. Doch in unserem Streben, alles richtig zu machen, übersehen wir manchmal die ganz einfache Wahrheit: Wir können nicht alles auf einmal optimieren.
Viele Dinge im Gehirn eines Kindes entwickeln sich einfach mit der Zeit. Es gibt Kinder, die eine ganze Fußballmannschaft an Freunden brauchen, um glücklich zu sein, und andere, denen nur ein einziger guter Freund reicht. Und genau das ist in Ordnung! Unsere Kinder brauchen nicht tausend Abzeichen, die ihre Fähigkeiten dokumentieren oder ihre Leistungen nachweisen. Früher war es die eine Medaille beim Leichtathletik oder das Abzeichen beim Judo – ehrlich gewonnen, und das war genug. Heute hingegen gibt es diese „Leistungsnachweise“ in allen Bereichen, oft ohne, dass wir wirklich darüber nachdenken, was sie für das Kind bedeuten.
Was uns heute fehlt, ist die richtige Dosis. Anstatt über Emotionsregulation zu sprechen, sollten wir über Dosisregulation nachdenken.
Es scheint, als ob Eltern oft versuchen, Schwächen oder ‚Macken‘ ihres Kindes durch Erfolge in anderen Bereichen auszugleichen – sei es, indem sie schlechte schulische Leistungen durch Auszeichnungen in Hobbys kompensieren oder problematische Eigenschaften durch besonders gute Noten verdecken.
Unsere Welt ist so durchgetaktet, so vollgepackt mit Medien, Angeboten und Möglichkeiten, dass Kinder kaum noch Raum haben, einfach nur zu sein. Wir Eltern, aus der 70/80er Generation, die mit drei Fernsehprogrammen und stundenlangen Spielen im Freien groß wurde, haben viel gelernt. Doch das, was uns damals stark gemacht hat, war die „Langsamkeit“ des Lebens – die gähnende Langeweile, die uns dazu brachte, kreativ zu werden, uns selbst zu entdecken und mit uns selbst ins Reine zu kommen. Auffällige Kinder gab es nur, wenn sie WIRKLICH auffällig waren, der Rest rutschte schon irgendwie so durch. Und siehe da wir leben noch alle und wissen es eigentlich besser.
Aber heutzutage ist jede Besonderheit sofort ein Grund, eine Diagnose zu stellen oder eine Therapie einzuleiten. Ein Lehrer vermutet LRS? Therapie! Das Kind ist schüchtern? Sozialtraining! Und wehe, es zeigt plötzlich Emotionen – dann muss das reguliert werden.
Eltern meinen es gut. Sie wollen alles richtig machen. Sie investieren Zeit, Geld, Energie. Aber vielleicht ist „richtig“ manchmal einfach nur: Mehr laufen lassen.
Damit ist kein laissez-faire Erziehungsstil gemeint, sondern richtig und falsch bleiben in den Werten der Eltern bestehen. Es geht nicht darum, alles durchgehen zu lassen, sondern den Kindern den Raum zu geben, sich zu entwickeln, Fehler zu machen und zu wachsen, ohne ständig dem Druck der Optimierung ausgesetzt zu sein.
Es gibt keine „perfekte“ Kindheit. Und vielleicht ist es gerade die Unvollkommenheit, die unsere Kinder stark macht.

Schlussfrage:
Was wäre mit Marie passiert, wenn ihre Eltern sie nicht so ‚überoptimiert‘ hätten? Hätte sie sich vielleicht in ihrem eigenen Tempo entwickeln können, mit der LRS-Förderung einmal ausgeklammert, ohne den ständigen Druck und die vielen zusätzlichen Angebote? Wäre es für sie wirklich schlimmer geworden, wenn man einfach mal nichts getan hätte?
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Emotionale Regulation bei Kindern
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